Suche/Archiv
Projektberichte

28.10.2017
Gewaltfreiheit als Kern christlichen Handelns – Traditionen der Gewaltfreiheit
Professor Dr. Gottfried Orth zu Gast in der Melanchthon-Akademie

„Es geht um Traditionen der Gewaltfreiheit“, leitete Professor Dr. Gottfried Orth seinen zahlreiche Bibelstellen berücksichtigenden und mit weiteren Zitaten wie Literaturhinweisen gespickten Vortrag „Gewaltfreiheit als Kern christlichen Handelns“ ein. „Eigentlich bräuchten wir drei Abende“, versuchte der Theologe den Umfang des Themas zu verdeutlichen.

Professor Dr. Gottfried Orth


Stattdessen umriss er vor den Besucherinnen und Besuchern in der Melanchthon-Akademie innerhalb von sechzig Minuten, wie es sich mit Gewalt und insbesondere Gewaltfreiheit im Alten und Neuen Testament verhält, welche Rolle sie bei Martin Luther, schließlich bei Dietrich Bonhoeffer, Dorothee Sölle und Albert Schweitzer einnimmt.

Neben Gerechtigkeit als ein biblischer Name für Gott sollte Gewaltfreiheit ein weiterer sein, meinte der Professor für Evangelische Theologie und Religionspädagogik an der Technischen Universität Braunschweig. „Wenn wir dies ernstnehmen wollen, gehört dazu auch, dass wir das Gewaltpotential unserer eigenen Traditionen und unserer eigenen Geschichte wahrzunehmen lernen.“ Nur wenn wir uns selbst als einen Teil dieser Probleme individueller, struktureller und kriegerischer Gewalt wahrnähmen, könnten wir Christinnen und Christen, Kirchen und Gemeinden zur ihrer Lösung beitragen.

Man könne die Geschichte von Kain und Abel auch als Übergang von individueller zu struktureller Gewalt begreifen, leitete Orth aus dem Alten Testament ab. In diesem Teil der Bibel sei durchgehend von Kriegen und Gewalttaten zu lesen. Gleichwohl könne dort weder die Rede sein von einer „besonderen ethischen Hochschätzung des Krieges“ noch – in weiten Teilen – von dessen Ächtung oder gar von Pazifismus.

Orth empfindet es als einen möglichen entscheidenden Beitrag zur Überwindung von Gewalt, dass die nichts beschönigenden Aussagen zu Gewalt, Grausamkeiten und Kriegen nicht verdrängt würden. Dass die Autoren auch die menschliche Tendenz zu Hass und Rache offen aussprachen. Neben diesen Traditionen der Gewalt wies Orth auf Hoffnungstexte im Ersten Testament hin, die auf deren Überwindung zielten. Diese „realistische Ehrlichkeit“ bilde letztlich den Grund für die tiefe Menschlichkeit der Forderung der Nächstenliebe: „Liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du!“, habe Martin Buber das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!“ (3. Mose 19, 18) übersetzt.

Bei seiner Gefangennahme habe Jesus einen Jünger zum Gewaltverzicht aufgefordert. „Gewaltverzicht durchbricht die Kette, in der Gewalt stets auf Gewalt folgt“, erklärte Orth die erste von Jesu drei Begründungen. Die zweite lautet, Gewaltverzicht könne als aktive Haltung aus einer Gewissheit der Stärke geübt werde. Der dritte Punkt ist für den Professor: „Der Verzicht auf Gewalt verweist auf ein Ziel, dessen Bestandteil gewaltlose Verhältnisse sind.“ Zugleich enthalte er bereits etwas von diesem Ziel, nehme es vorweg.

An den klaren Blick auf das Alte Testament anknüpfend, werde in der griechischen Bibel die Gewalt nicht verdrängt, erklärte Orth weiter. Jedoch stellten die Texte Normen infrage. Die neutestamentliche Forderung des Gewaltverzichts habe den Gewalt ausübenden Gegner selbst im Blick. „Diese Richtung des Gewaltverzichts als Tun (…) ist davon bestimmt, dass Gewaltverzicht im NT nicht von Feindesliebe getrennt werden kann.“ Der so geübte Gewaltverzicht ist laut Orth ein Vorschein auf die Herrschaft Gottes. Für die urchristliche Gemeinde sei Gewaltverzicht „nicht Mittel zu einem noch zu erreichenden Ziel, sondern Bestandteil des Zieles selbst“.

„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“: Damit lasse Jesus das alttestamentarische Gebot der Nächstenliebe aufgehen in einer neuen, den Feind einschließenden Dimension. Er ordne Gottesliebe und Nächstenliebe einander zu. So sprach Orth von der Universalisierung des Liebesgebots im Neuen Testament. Auf die Frage Jesu: „Wem bin ich der Nächste?“ sagte der Referent: „Wem ich der Nächste bin, entscheidet sich in der konkreten Situation im Tun.“ Die Kategorien Freund und Feind würden aufgehoben: „Der Nächste ist ein konkreter Mensch.“

„Unbekannt, oft verschwiegen“ sei der Pazifismus der frühen Christen, bedauerte Orth. Die Haltung „ich kann kein Soldat sein, ich bin ein Christ!“ kennzeichne diese Zeit bis 313 n.Chr. In der Bergpredigt habe Jesus die „pacifici“, die „Friedensstifter“ seliggepriesen. Ihm seien die Kirchenväter mit ihrer Betonung der Kraft der Gewaltlosigkeit gefolgt. Das sei Konsens der christlichen Gemeinden in den ersten drei Jahrhunderten gewesen. Verwunderlich nannte Orth, dass Kaiser Konstantin Christ geworden und trotzdem Herrscher geblieben sei. „Das war dann die selbstverständliche Position bis hin zu Luther und weit darüber hinaus bis zu den lutherischen Kirchen im 20. Jahrhundert“, nahm der Referent auch die beiden Weltkriege mit hinein. Luther habe die Auffassung vertreten, dass „ein Christ im Auftrag des Fürsten ´hauen, stechen und morden´ und zugleich im seligen Stand sein konnte“. Gleichzeitig hätten „durch die ganze Geschichte des Christentums hindurch“ pazifistische Positionen der Gewaltfreiheit existiert.

Dass Dietrich Bonhoeffer 1930 als Gaststudent in New York gemeinsam mit dem französischen, pazifistischen Theologen Jean Lasserre die Bergpredigt gelesen habe, bezeichnete Orth für diejenigen, denen Bonhoeffer Orientierung biete, als Glücksfall. „Der christliche Pazifismus, den ich noch kurz vorher (…) leidenschaftlich bekämpft hatte, ging mir auf einmal als Selbstverständlichkeit auf“, zitierte er den unter dem NS-Regime 1945 hingerichteten deutschen Theologen. Luther habe die Bergpredigt als eh nicht einhaltbar gelesen. Bonhoeffer dagegen habe sie für realisierbar gehalten, und damit seine frühere Position relativiert. „Es gibt keinen Weg zum Frieden auf dem Weg der Sicherheit“, Friede sei Wagnis, sollte Bonhoeffer kurz darauf formulieren.

Für Dorothee Sölle habe „gewaltfrei existieren“ bedeutet, „im gemeinsamen Leben mit anderen Lebewesen zu denken und zu handeln“, erläuterte der zugleich als Autor sowie Trainer und Lehrer im Bereich Gewaltfreie Kommunikation tätige Referent. Im Alter habe Sölle das Gelingen einer gewaltfreien Welt immer skeptischer gesehen. Umso stärker sei die „theologische Poetin“ für die Unterbrechung der Gewalt, für die Unterbrechung ihrer Zwangsläufigkeit eingetreten. Albert Schweitzer ist kein weltfremder Friedensapostel gewesen, sondern habe Gewaltfreiheit in einem sehr tiefen Sinn vertreten, betonte Orth dessen Forderung, Ehrfurcht vor allen lebendigen Wesen, also auch vor den Tieren, zu haben.



Text: Engelbert Broich
Foto(s): Engelbert Broich