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Projektberichte

24.10.2014
Wolfgang Thierse: Kirche soll mit einer Stimme reden
Der Bundestagspräsident a. D. sprach über „Christliche Grundlagen politischer Verantwortung“

„Das Thema schüchtert mich ein“, begann Dr. h. c. Wolfgang Thierse seinen Vortrag über „Christliche Grundlagen politischer Verantwortung“ – und das Publikum hing gespannt an seinen Lippen. Manche hatten keinen Sitzplatz mehr gefunden, proppenvoll war es im Gemeindesaal „Engel am Dom“ der evangelischen Gnadenkirche in Bergisch Gladbach, einer Stadt, durch die Thierse bis dato bestenfalls mal durchgefahren war.

Dr. h. c. Wolfgang Thierse während seines Vortrags in der Gnadenkirche Bergisch Gladbach


Dass er an einem Oktobermontagabend zu Vortrag und anschließendem (Streit-)Gespräch mit ARD-Korrespondent Arnd Henze in die alte Papiermacherstadt gekommen war, lag an der Einladung mehrerer Institutionen: Evangelische Melanchthon-Akademie Köln, Katholisches Bildungsforum Bergisch Gladbach, Volkshochschule Bergisch Gladbach, Quirl e.V., katholische Kirchengemeinde St. Laurentius und 1. Pfarrbezirk (Gnadenkirche) der Evangelischen Kirchengemeinde Bergisch Gladbach hatten das hochkarätige Duo für das diesjährige Thema „Religion und Politik“ der Reformationsdekade zu Vortrag und Gespräch buchstäblich eingeflogen.

Normen und Werte unabdingbar
Schon Melanchthon, so begann Thierse, habe die Trennung von Politik und Religion beziehungsweise von Staat und Kirche propagiert. Der Bundestagspräsident a. D. pointierte den grundsätzlichen Unterschied beider Welten: „In der Politik geht es um das Wohl des Menschen, in der Religion geht es um das Heil des Menschen.“ Klar sei jedoch, „dass es keinen bloß geglaubten Glauben geben kann“. Er habe Auswirkungen auf die Gesellschaft, wie unter anderem Caritas und Diakonie zeigten, er befördere „die Einweisung in gutes sinnvolles Leben, das immer nur gemeinschaftlich gelebt werden kann“. Für dieses Zusammenleben seien Normen und Werte als „ethisches Fundament“ unabdingbar, und das müsse „immer wieder neu erarbeitet“ werden.

Hüter der Menschenwürde
In diesem gesellschaftlich-politischen Diskurs sei es wichtig, „dass Kirchen und Christen sich prägnant und entschieden äußern, um als Stimme beachtet zu werden“, forderte Thierse. Dabei sollten sie keinesfalls zu allem Stellung beziehen („Das ist inflationär und Inflation entwertet.“), sondern sich vor allem zu Themen in drei Bereichen positionieren: als Gestalter des inneren und äußeren Friedens, als Verteidiger des Sozialstaats und als Hüter der Menschenwürde.
Bei ethischen Fragen sei „das kirchliche Votum interessant, um den Sachverstand und das Gewissen zu schärfen“. Und das meinte Thierse nicht nur in Bezug auf die Bürgerinnen und Bürger, sondern vor allem in Bezug auf die Politiker, die Entscheidungen für das Gemeinwesen fällen. Gleichwohl, betonte er, sei ein religiöses Argument nicht per se zustimmungsfähig im weltanschaulich unterschiedlich und sachlich geprägten Bundestag. Vielmehr gelte, „dass der Gehalt eines religiösen Arguments in eine allgemein verständliche Sprache übersetzt werden muss“. Nur dann könne es überzeugen. „Erst dann besteht die Chance, dass es mehrheitsfähig wird.“

Evangelium liefert Maßstäbe
Sind Christinnen und Christen bessere Politiker? Wolfgang Thierse glaubt das nicht. Zumal sich aus dem Evangelium verschiedene Positionen ableiten ließen, wie das Spektrum mehrheitlich christlicher Parteien zeige. Er ermunterte christliche Politiker, sie sollten „ihre Entscheidungen durchaus an den Maßstäben überprüfen, die sie aus ihrem Glauben ableiten“. Denn das Evangelium liefere Maßstäbe für Gerechtigkeit, Verantwortung, Gemeinwohl und viele andere Themen. „Das Evangelium handelt von der Würde.“ Es erzähle von der Gotteskindschaft und zeige, dass der Mensch nicht nur Arbeitskraft und Konsument sei. Allerdings, so Thierses Empfehlung für die Statements christlicher Politiker: „Sie sollten sich etwas mehr Mühe mit ihren Begründungen machen.“

Eine Partei soll eine Meinung vertreten
Das Publikum, das dem stringent und gut verständlichen Vortrag interessiert gefolgt war, lauschte ebenso mucksmäuschenstill dem anschließenden Gespräch, das Arnd Henze als evangelischer Theologe mit dem katholischen Politiker führte. Durch die mal provozierenden, mal nachhakenden Fragen des kundig und einfühlsam moderierenden Henze und durch Fragen aus dem Publikum führte Thierse einige Punkte weiter aus. So widersprach er „entschieden“ dem Eindruck, der Afghanistan-Militäreinsatz sei 2001 eine Machtfrage gewesen: „Wir waren in einem Bündnis. Es gab starke Argumente und Zweifel.“ Auch etwas anderes ärgerte Thierse: „Ich habe etwas gegen die negative Mythisierung des Fraktionszwangs.“ Es sei für Debatten und Bürger hilfreicher, „dass eine Partei eine Meinung vertritt und nicht 25“.

Friedensethik bleibt grundlegend
In punkto absoluter Friedensethik glaubt Thierse, dass sie „nicht durchzuhalten“ sei, dass sie aber „grundlegende Orientierung“ bleiben müsse und „auf keinen Fall“ nur militärische Einsätze sinnvoll seien. In punkto Wirtschaft warnte er vor Handelsabkommen, die rechtsstaatliche Errungenschaften wie Umweltstandards und kulturelle Vielfalt außer Kraft setzen könnten. Auch sieht Thierse es als problematisch an, „dass eine Mehrheit ganz selbstverständlich einer Wachstumsideologie anhängt“. Sein Wunsch, auch wenn er die Planwirtschaft als Ex-DDRler hat scheitern sehen: „Wir brauchen ein Modell dafür, wie eine Wirtschaft ohne Wachstum funktionieren kann.“

Menschen wollen Verbindlichkeit
Henze erinnerte an die EKD-Erklärung zur Null-Toleranz für Rüstungsexporte in Drittländer, was Thierse begrüßte: „Ich wünsche mir sehr, dass die Kirche da eindeutig bleibt.“ Er betonte nochmals die Bedeutung der Trennung von Staat und Kirche. Zugleich lebe ein weltanschaulich neutraler Staat davon, „dass die Bürger nicht weltanschaulich neutral sind“. Es gelte, die eigene Position, gerade in ethischen Fragen, kundzutun. Im Hinblick auf die Kirche sei es sinnvoll, dass sie mit einer Stimme anstatt mit zehn spreche. „Je pluraler die Gesellschaft ist, umso größer das Stimmengewirr“ – und umso notwendiger seien eindeutige Voten, um wahrgenommen zu werden. „Ich sehe das Bedürfnis von Menschen, Verbindlichkeit zu erfahren.“ Für ihn als Politiker hätten klare Positionen und Maßstäbe einen großen Vorteil: „Die Freiheit besteht darin, dass ich mich an diesen Maßstäben abarbeiten kann und aufgrund meines Sachverstands und Gewissens entscheide.“ Denn letztlich gehe es für christliche wie für nicht-christliche Politiker immer um eins: „In der Politik muss man entscheiden.“

Turmspitzengel zum Dank
Viele Zuhörer entschieden sich auch: Sie blieben nach dem offiziellen Teil noch bei Getränken und Diskussionen im kleinen Kreis zusammen. Auch die beiden Männer aus Berlin genossen ein Bierchen, nachdem ihnen Pfarrer Thomas Werner als Hausherr jeweils einen Turmspitzengel der Gnadenkirche als Mini-Anhänger aus Messing überreicht hatte: „Als Zeichen des Trostes und der Ermutigung.“ Vielleicht verleitet er Thierse und Henze zum Wiederkommen? In jedem Fall, so die beiden unisono, hätten „solche kommunikativen Ereignisse“ einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft. Denn leider sei es so, erklärte Thierse, „dass zu viele Menschen meinen, die Talkshows im Fernsehen seien Politik“.



Text: Ute Glaser
Foto(s): Ute Glaser