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Projektberichte

03.03.2016
Dr. Bernhard Seiger über Martin Luther und Evangelisch-Sein in heutiger Zeit
Der Beauftragte für das Reformationsjubiläum spricht über Spiritualität, Lebens- und Glaubenshaltung, evangelisches Profil – und lädt zu Veranstaltungen ein

Reformation verbinden viele Menschen mit Martin Luther, mit seinen 95 Thesen, die er am 31. Oktober 1517 an das Portal der Wittenberger Schlosskirche genagelt haben soll, und mit der Überlieferung seines Ausspruchs „Hier stehe ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen“, als er sich weigerte, seine Lehre zu widerrufen. Zuvor hatte er sich gegen den Ablasshandel der katholischen Kirche ausgesprochen. Menschliche Autoritäten, aber auch die Autorität der Kirche und des Papstes konnten ihn nicht überzeugen. Luther hat sich bedingungslos seinem Gewissen verpflichtet.

Dr. Bernhard Seiger, Beauftragter für das Reformationsjubiläum im Evangelischen Kirchenverband Köln und Region

Herr Dr. Seiger, ist die unbedingte Bindung an das eigene Gewissen auch heute noch ein „Markenzeichen“ von Evangelisch-Sein?

Dr. Bernhard Seiger: Es ist nicht nur die Bindung an das eigene Gewissen, sondern in gleicher Weise an die Schrift, die Luther dazu geführt hat, in Worms so standhaft zu sein. Beides gehört auch heute zusammen. Evangelisch-Sein heißt, mit eigener Urteilsfähigkeit für den christlichen Glauben einzutreten. Mich nicht hinter kirchlichen Sätzen zu verstecken. Und das kann ich dann, wenn ich mich in der Bibel der beiden Testamente orientiere und mich frage, was diese Worte mir sagen. Gewissen verstehe ich also als die individuelle Prüfung des Denkens und Handelns vor Gott auf der Grundlage der biblischen Maßstäbe. Und ich kann zugestehen, dass eine Schwester oder ein Bruder in ihrer Auseinandersetzung zu andern Ergebnissen und Akzenten kommen können als ich. Das macht die Vielfalt des evangelischen Denkens aus.

Was macht Ihrer Meinung nach einen „guten evangelischen“ Christen aus?

Dr. Bernhard Seiger: Ich denke an dieser Stelle an Karl Barth, der gesagt hat, dass er seine Orientierung so findet, indem er die Bibel in der einen Hand und die Tageszeitung in der andern Hand hält. Das bedeutet, ganz wach in der Gegenwart unterwegs zu sein. Das betrifft den eigenen Alltag, aber auch das Leben in der uns umgebenden Gesellschaft mit den Themen und Fragen, die einen heute herausfordern. Ein evangelischer Christ sucht immer wieder neu den Dialog zwischen der Lebens- und Glaubenshaltung, die er in der Schrift lernt und dem Blick auf die Gegenwart. Es geht nicht nur um das Denken und Wahrnehmen, sondern darum, das Gute zu tun, das sich aus dem biblischen Auftrag zur Nächstenliebe ergibt.

Die „fünf Säulen des Islam“ gelten für Muslime. Woran orientiert sich eine evangelische Christin? An den zehn Geboten, an den vier Soli?

Dr. Bernhard Seiger: Ich verstehe, dass viele Menschen gerne einfache Formeln zur Orientierung hätten. Aber auch die fünf Säulen des Islam sind in ihrer Orientierungskraft begrenzt, wenn es darum geht, sich in sehr vielfältigen Lebenssituationen in der Familie, in der Schule, im Beruf, bei gesellschaftlichen Veränderungen richtig zu verhalten. Wir brauchen zur Orientierung die Fähigkeit zum Dialog, zum Lernen und zum Perspektivwechsel. Dabei helfen uns die Gebote, insbesondere das Doppelgebot der Liebe, das heißt die Liebe zu Gott und den Nächsten. Damit ist alles gesagt. Was diese Orientierung für mein Verhalten in aktuellen Situationen bedeutet, finde ich oft erst durch das Gespräch und die Begegnung mit Menschen heraus, weil das Leben so vielfältig ist. Und deshalb ist Orientierung nicht mit einfachen Formeln zu bekommen.

So gesehen sind evangelische Christen also permanent Lernende?

Dr. Bernhard Seiger: Ja.

Hat die protestantische Kirche heute noch ein klar erkennbares Profil?

Dr. Bernhard Seiger: Ich frage zurück: Hatte sie in der Vergangenheit immer ein klares Profil und wenn ja, hat es ihr gut getan? In der Zeit vor und während des Ersten Weltkriegs war die Evangelische Kirche zum Beispiel stark deutsch-national geprägt. Von Völkerverständigung war nichts zu hören. So hatte sie zwar ein Profil, hat aber unheilvolle Entwicklungen damit nicht aufgehalten, im Gegenteil. In der Zeit des Nationalsozialismus hat die Evangelische Kirche dagegen ein sehr zerrissenes Bild abgegeben. Sie war in dem Maß glaubwürdig, wie sie innerlich zum Zeitgeist auf Distanz gegangen ist und dem Führerkult aus theologischen Gründen Grenzen gesetzt hat. Ich glaube, dass das Profil unserer Kirche auch in undurchsichtiger Zeit umso deutlicher ist, je mehr erkennbar ist, dass wir nicht reflexhaft auf unsere Zeit reagieren. Es geht um die Haltung, die wir einnehmen, die vom Geist des Evangeliums bestimmt ist, und deshalb in der Lage ist, Kritisches zu Entwicklungen zu sagen und über den aktuellen Augenblick hinaus zu denken.

Zurück zu Luther: Kirchliche Hierarchien, Prunksucht, Heiligenverehrung, Papsttum und der Ablasshandel: Dies und vieles mehr störte Martin Luther an der katholischen Kirche in der Zeit des Übergangs vom Spätmittelalter zum Beginn der frühen Neuzeit. Welche seiner 95 Thesen hat Sie in Ihrem Leben am stärksten geprägt?

Dr. Bernhard Seiger: Ich fand die 95 Thesen für mich persönlich nicht so spannend, viel wichtiger fand ich, dass Martin Luther sich ganz viel mit menschlichen Erfahrungen beschäftigt, der Suche nach Gott, der Suche nach dem eigenen Weg. Dabei hat er entdeckt, dass wir das Wichtigste in unserem Leben geschenkt bekommen. Diese Haltung des Empfangens finde ich sehr stimmig für mein Leben. Theologisch wird diese Sicht als Leben aus der Gnade bezeichnet.

Für einige war und ist Martin Luther ein streitbarer Reformator, andere verweisen gern auf seine antisemitischen Äußerungen oder auf seine deftige Sprache. Wie lässt sich seine Persönlichkeit aus heutiger Sicht erklären und darstellen?

Dr. Bernhard Seiger: Martin Luther ist zweifellos ein Mensch des Mittelalters, und in manchem bleibt er trotz seiner grandiosen reformatorischen Einsichten der mittelalterlichen Zeit verbunden. Er ist sicher kein Heiliger im Sinne von Fehlerlosigkeit, er hat in vieler Hinsicht wie wir heute sehen, geirrt. Ein Beispiel sind seine antijüdischen Formulierungen und Schriften. Ganz danebengelegen hat er aus heutiger Sicht auch in seiner einseitigen Haltung zu den Bauernkriegen. In anderer Hinsicht hat er klar den Blick des befreiten Menschen eingenommen, wie er für die Neuzeit prägend wurde. Er hat mit seinem Bemühen um Wahrhaftigkeit und Gottvertrauen die Fesseln von äußerlichem Regelwerk, das Menschen unnötig unfrei macht, abgelegt. Mit seiner lebensnahen Sprache und Liebe zum Leben hat er Menschen Lust auf den Glauben gemacht. Er ist also eine faszinierende kraftvolle Persönlichkeit mit Schattenseiten, an denen wir uns zu Recht heute reiben.

Sie sprechen von „Lust auf den Glauben“. Mancherorts wird bemängelt, die evangelische Kirche verfüge über zu wenig Spiritualität. Und das erkenne man bereits an den Kirchräumen, die karg und leer wirkten. Sehen Sie das auch so?

Dr. Bernhard Seiger: Es gibt Kirchenräume, die haben geistliche Kraft, obwohl sie von einer schnörkellosen Architektur geprägt sind, und es gibt Kirchenräume, die mit viel Kunst und Ausstattungsdetails glänzen, aber trotzdem spirituell nicht aussagekräftig sind. Man müsste hierzu also über einzelne Räume sprechen. Über wie viel Spiritualität eine Gemeinde verfügt, entscheidet sich sicher mehr an den Menschen, die ein Gemeindeleben prägen, als am Gebäude, obwohl geistliche Räume, die diesen Namen verdienen, einem natürlich beim Glauben helfen. Spiritualität ist an so vielen Stellen spürbar, an denen Menschen mit Musik umgehen, sich um einen achtsamen Umgang miteinander als Christen bemühen und Räume für die Begegnung mit Gott schaffen.

Werfen wir einen Blick in die Zukunft: Sie haben unlängst öffentlich darüber informiert, dass es am 31. Oktober 2017 eine gemeinsame ökumenische Vesper mit Rainer Maria Kardinal Woelki und Präses Manfred Rekowski geben wird. Wörtlich sagten Sie, die Feier im Altenberger Dom werde man „nicht als Gast und Gastgeber, sondern in gemeinsamer Verantwortung gestalten“. Was sagen Sie denen, die sich wünschen, das Jahr 2017 solle vorrangig die Bedeutung der evangelischen Kirche in der Öffentlichkeit stärken, also denen, die evangelische Kirche gern als Gastgeber sehen wollen?

Dr. Bernhard Seiger: Das eine schließt das andere natürlich nicht aus! Wir werden in den nächsten zwei Jahren viele evangelische Veranstaltungen haben, die spüren lassen, was die Schätze des evangelischen Glaubens sind. Aber ich bin überzeugt, dass wir die konfessionelle Zeit inzwischen weitgehend hinter uns gelassen haben und sollten gemeinsam mit der katholischen und orthodoxen Kirche das herausstellen, was ein christliches Glaubensleben ausmacht. Eine gemeinsame ökumenische Vesper mit Kardinal Woelki und Präses Rekowski stellt doch in die Mitte, was das Anliegen unserer beiden Kirchen ist: Dass das Evangelium von Jesus Christus für unser Leben einen großen Reichtum und Orientierung bedeutet.

Der Evangelische Kirchenverband Köln und Region (EKV) gehörte ja zu den Ersten in der rheinischen Kirche, die eine Webseite zum Reformationsjubiläum erstellt haben. Bereits seit 2014 leiten Sie den Arbeitskreis „Reformationsdekade“, durch den Veranstaltungen organisiert und koordiniert werden. Auf welche Veranstaltungen in 2017 darf man sich schon heute freuen?

Dr. Bernhard Seiger: Es findet ja auch in diesem Jahr schon vieles statt. Am 24. September findet gemeinsam mit den Geschwistern vom katholischen Stadtdekanat ein ökumenischer Gedenkweg zu Clarenbach und Fliesteden statt. Sie wurden 1529 als evangelische Ketzer in Köln hingerichtet. Es gibt auch jetzt schon viele Veranstaltungen im Rahmen des Psalmenprojektes der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Köln. Erwähnen möchte ich davon das Projekt mit Schülerinnen und Schülern mit künstlerischen Arbeiten zu Psalmen im September, organsiert von den Schulreferaten und der übersynodalen Jugendarbeit. Dies wird im katholischen Jugendzentrum Crux und im Haus der Evangelischen Kirche zu besuchen sein. Wir werden bald eine Wanderausstellung haben, die ab Oktober ein Jahr lang mit 13 Tafeln die Geschichte der Evangelischen in unserer Region präsentiert. Sie wird in Kirchen und Gemeindehäusern und vielleicht auch in Rathäusern zu Gast sein. Dazu wird es lokale Einzelevents geben.

2017 werden Fahrten zum Kirchentag nach Berlin und Wittenberg angeboten und von Juni bis September finden jede Woche Konfi-Camps für jeweils fünf Tage in Wittenberg statt. Das Motto „trust and try“. Ich hoffe, dass viele Gemeinden statt der normalen Konfi-Freizeit dieses Mal den Weg an die Elbe planen und das Leben in Dorfverbänden in einer Zeltstadt, mit Workshops, Ausflügen zu Orten der Reformation innerhalb der „Weltausstellung Reformation“ erleben.

In 2017 wird es viele Musikereignisse geben, denn die evangelische Kirchenmusik ist eines der folgenreichsten Erbstücke der Reformation. Wir werden eine CD mit Orgelwerken aus der Trinitatiskirche aus fünf Jahrhunderten veröffentlichen und am eigentlichen Reformationstag 2017 eine Gottesdienststafette organisieren. Für den Vorabend des 500. Reformationstages planen wir einen Festakt mit der Stadt Köln und herausragender Chor- und Orchestermusik in der Kölner Philharmonie.

Was müsste geschehen, damit Sie 2018 aus voller Überzeugung sagen können: „Das Reformationsjubiläum im EKV hat alle meine Erwartungen erfüllt!“

Dr. Bernhard Seiger: Das könnte ich sagen, wenn sich viele Gemeinden auf den Weg machen und mit ihren reformatorischen Schätzen zuversichtlich leben, also der Musik, der Kunst, der Jugendarbeit, vielfältigen Gottesdiensten, mit Stil, Kreativität und Originalität. Wenn wir Freude daran haben, mit vielen Geschwistern der Ökumene gemeinsam als Christen unterwegs zu sein. Wenn wir selbst erleben, was Hanns Dieter Hüsch gesagt hat: „Ich bin vergnügt, erlöst, befreit.“ Und wenn 2018 mehr Menschen als heute wissen, was Luther und seine Gefährten angetrieben hat, und sie erleben, dass christliches Leben ein gutes Fundament hat und der Gesellschaft gut tut. Solche Früchte können wir nicht messen, und das ist vermutlich gut so.

Vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Angelika Knapic.

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Die Webseite zur Reformationsdekade im Evangelischen Kirchenverband Köln und Region mit Terminhinweisen, Materialien, Projektberichten und Historischem finden Sie hier.

Informationen zum ökumenischen Mitmachprojekt „Mit Psalmen Brücken“ bauen, zu dem auch das Projekt mit den Schülerinnen und Schülern gehört, finden Sie hier.



Text: APK
Foto(s): Engelbert Broich/Privat