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Projektberichte

19.03.2016
„Was müsste Luther heute sagen?“, fragte Heiner Geißler
Unnötige Kirchenspaltung überwinden und Druck von unten machen

Wer, wie Heiner Geißler, ein Alter von 84 Jahren erreicht hat, kann sich an manches erinnern, das aus heutiger Sicht einer längst vergangenen Epoche zu entstammen scheint. Im Falle des ehemaligen Bundesministers für Familie, Jugend und Gesundheit und langjährigen CDU-Generalsekretärs sind es beispielsweise jene regelmäßigen Ablasszahlungen, die seine Großmutter mit konkreten Hoffnungen verband: „Als kleiner Bub brachte ich jede Woche ein Kuvert meiner Großmutter zum Pastor des Dorfs“, erzählte Geißler seinen Zuhörerinnen und Zuhörern in der evangelischen Dietrich-Bonhoeffer-Kirche.

Heiner Geißler während seiner Lesung in der Junkersdorfer Kirche

„Einmal war das Kuvert offen und ich sah, dass 20 Reichsmark darin waren. Als ich sie danach fragte, sagte sie, dass so ein Brief 500 Tage weniger im Fegefeuer bedeuteten.“

Interesse an der Reformation
Der Katholik und spätere Jesuitenschüler Geißler, der nach dem Abitur sogar zunächst dem Orden beitrat, war jedenfalls mit den Gegensätzen zwischen katholischer und evangelischer Kirche in Berührung gekommen, was früh sein Interesse an der Reformation und Martin Luther weckte. Sein im vergangenen Jahr veröffentlichtes Buch „Was müsste Luther heute sagen?“ ist demnach Ergebnis einer lebenslangen Beschäftigung mit dem Reformator, eine ganz persönliche Annäherung auch – und nicht zuletzt – aus der Sicht eines politisch denkenden Menschen.

Im Innern ein Protestant
Ein Exemplar lag bei der Lesung in der bis zum letzten Platz gefüllten Junkersdorfer Kirche stets griffbereit. Doch es blieb ungeöffnet, Geißler legte seine Ansichten lieber im freien Vortrag mit zahlreichen Exkursen und Anekdoten dar. Schon das Statement im Klappentext: „Jeder intelligente Katholik ist im Innern auch immer ein Protestant“ gibt dabei die Richtung vor, und Heiner Geißler liest „seiner“ katholischen Kirche umstandslos die Leviten: Schon den Jesuiten-Orden habe er unter anderem deshalb verlassen, weil er sich nicht in der Lage sah, das Keuschheits-Gelübde einzuhalten. Den Zölibat hält er für unzeitgemäß: „Das muss sich ändern, da sind die Katholiken 500 Jahre zu spät dran.“

Luthers „Revolution“
Das ist für Geißler durchaus kein Nebenschauplatz, denn die Aufrechterhaltung des Zölibats zeige, dass das Bild der Frau als „Mensch zweiter Klasse“, als hoffnungslose Sünderin, immer noch durch die Denkgebäude der katholischen Kirche spuke. Luthers „Revolution“ habe eben darin bestanden, dass er den Menschen nicht mehr vornehmlich als verabscheuungswürdigen Sünder sieht, sondern als ein der Gnade würdiges Geschöpf Gottes. Gott, der seit Luther nicht mehr der strafende, rächende Gott sein müsse, sondern barmherzig sein dürfe, gewähre allen Menschen unabhängig von Herkunft, Hautfarbe oder Geschlecht diese Gnade, ohne dass sie eines geistlichen Vermittlers – oder gar des Freikaufs von Sünden – bedürften.

Reformation blieb stecken
Geißler erklärte diese Überlegungen ausführlich, sah aber auch Anlass zur Kritik an Luther. So habe der Reformator die gesellschaftlichen Konsequenzen seiner Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen unterschätzt. Als sich die Bauern auf ihn und seine Thesen beriefen und gegen ihre Leibeigenschaft kämpften, habe er sich stattdessen auf die Seite der Fürsten geschlagen: „Das hat Luther viel Ansehen gekostet, deshalb ist die Reformation auf halbem Wege stecken geblieben“, urteilte Geißler.

Jede Arbeit fair bezahlen
Ein Luther müsste heute politisch klar Stellung beziehen, müsste dafür sorgen, dass die internationale Wirtschaftsordnung ein humanes Gesicht erhalte, dass die armen Länder nicht länger von den reichen ausgebeutet und mit subventionierten Billigwaren überschwemmt werden, dass jede Arbeit fair bezahlt wird und dem Unwesen der Spekulation Grenzen gezogen werden: „Ich bin ja vor acht Jahren nicht ATTAC beigetreten, weil die sich mit Polizisten prügeln, sondern, weil die sich für die Besteuerung von Finanztransaktionen einsetzen“, sagte Geißler.

Weltwirtschaftssystem „humanisieren
„Humanisiert“ werden könne das Weltwirtschaftssystem am ehesten mit Hilfe von christlichen Werten wie Barmherzigkeit. „Es gibt zwei Milliarden Christen auf der Welt, wir müssen Druck von unten machen.“ Und zwar gemeinsam, und deshalb gelte es „im anstehenden Jahr des Reformationsjubiläums die unnötige Spaltung der Kirchen zu überwinden“ oder wenigstens wichtige Schritte in diese Richtung zu tun. „Für die Spaltung gibt es eigentlich keine theologischen Gründe mehr“, sagte Geißler, denn auch die Katholische Kirche sei nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil eine Volkskirche geworden. Sogar in Fragen wie der Rechtfertigungslehre nähere man sich an, einzelne Problemzonen wie das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papsts, müssten natürlich noch bearbeitet werden.

Playmobil-Figur von Martin Luther
Für diese Forderungen erhielt Geißler viel Applaus in Junkersdorf. Zum Dank für seinen lebendigen Vortrag erhielt er unter anderem auch Martin Luther als Playmobil-Figur aus den Händen des früheren Stadtsuperintendenten Ernst Fey. Und fand noch Zeit für eine Signierstunde im Gemeindesaal.



Text: Hans-Willi Hermans
Foto(s): Hans-Willi Hermans